Mit offenem Visier

Süddeutsche Zeitung, 17 de julio de 2012

Por Moritz von Stetten

München – Über Politik redet Amir Valle mit seinem Vater nicht mehr. Das gibt nur Streit bei den monatlichen Telefonaten vom Berliner Exil nach Havanna. Der kuba­nische Schriftsteller und gläubige Katholik darf auf persönliche Anweisung von Fidel Castro seit 2005 nicht mehr in sein Heimat­land zurückreisen, sein atheistischer Vater dagegen ist auch heute noch Anhänger der kubanischen Revolution. Also fragt Amir Valle nach dem Befinden der Familie in Ku­ba, und sein Vater bekommt im Gegenzug Neuigkeiten von den Enkeln Antonio, 23, und Lior, 11, sowie Schwiegertochter Ber­tha. Seit sechs Jahren lebt Valle in Deutsch­land im Exil. Den Juli 2012 verbringt er nun mit seiner Frau in der Villa Waldberta in Fel­dafing, am heutigen 17. Juli ist er zu Gast im Münchner „Instituto Cervantes».

Die Probleme in Kuba begannen mit dem Erfolg in Spanien. Seit 1999 war Amir Valle auf Anraten des paraguayischen Au­tors Augusto Roa Bastos regelmäßig bei der „Semana Negra», Spaniens jährlichem Literaturfestival in Gijón, zu Gast. Bei sei­nem dritten Besuch im Jahr 2001 stellte der damals 45-jährige Valle seinen Krimi „Las puertas de la noche» („Die Türen der Nacht») vor und wurde begeistert von der spanischen Presse aufgenommen. Kein Wunder: Die spanische Leserschaft interes­sierte sich brennend für die spannenden Krimis, die in den geheimen Ecken von Havannas Untergrund spielen. Kubas Krimi hatte Hochkonjunktur, und Amir Valle wurde mit Leonardo Paruda, Lorenzo Lunar Cardedo und Daniel Chavarria Teil der gefeierten Autorenschaft.

Valles Erzählungen handeln von wahren Begebenheiten, es geht um Korruption, Drogenhandel und Prostitution. Die Prosti­tuierten Havannas, genannt ,jineteras», sind Valles Lebensthema. Sie eröffneten ihm Einsicht in die kriminellen Szenen, ihr Schicksal war der Knotenpunkt von Havan­nas Untergrund. Die kubanische Regie­rung studierte seine Aussagen genau. Zu­rück in Havanna zitierte der befreundete Kultusminister Abel Prieto Valle inseinMi- nisterium. Prieto ist ebenfalls ein namhaf­ter Schriftsteller in Kuba, jedoch der Regie­rung wohlgesinnt und seit März 2012 sogar persönlicher Berater des Präsidenten Raúl Castro. „Ihr Problem war, dass ich keiner Oppositionsgruppe zugeordnet werden konnte. Ich war selbständig und frei», sagt Valle über die damalige Situation.

Der politische Gegenwind war für ihn aber kein Grund, vom bisherigen Weg abzu­rücken. Im Gegenteil: Zwischen 2001 und 2005 veröffentlichte Valle mindestens ein Buch pro Jahr und festigte seinen Bekannt – heitsgrad in Südamerika und Spanien. Tei­le des Skripts seines erst 2008 veröffent­lichten Sachbuchs „Habana Babilonia» über die kubanischen .jineteras» gelang­ten ins Internet und fanden Verbreitung auf Kubas Bücherschwarzmarkt. Er arbei­tete als Redakteur für verschiedene Zeit­schriften und Internetmagazine, erhielt zu­dem mehrere nationale und internationale Literaturpreise. Immer häufiger suchte Abel Prieto in diesen vier Jahren das Ge­spräch. Valle blieb unbeeindruckt, Anfang 2005 war seine Freundschaft mit Prieto dann endgültig zerrüttet.

Oktober 2005: Valle war mit seiner Frau nach Madrid gereist, um seine neueste Novelle „Últimas noticias del infierno» (Letzte Nachrichten aus der Hölle) vorzu­stellen. Valle gab wieder viele Interviews, beantwortete Fragen zur Kriminalität in Havanna und zur politischen Lage Kubas. Diesmal reagierten Kubas Behörden: Sie stuften ihn als „suspekte Person» ein. Am Flughafen wurde ihm mitgeteilt, dass er keine Erlaubnis zur Wiedereinreise nach Havanna hätte. Valle, der Journalist und Au – tor, reagierte, wie er es immer in Situationen der Unwissenheit tat: Flucht nach vorne, entschiedenes Nachfragen. Er ist kein rachelüsterner Mensch, kein nach­tragender Widerstandskämpfer, sondern ein Mann der klaren Worte und der offenen Kommunikation. Ohne Erfolg: Bevor die Si­tuation zu eskalieren drohte, zerrte ihn sei­ne Frau aus dem Terminal.

Zunächst blieben die beiden in Madrid, übernachteten die meiste Zeit bei der be­freundeten Professorin Christina Rojas. Im Sommer 2006, ein Jahr nach seiner verwei­gerten Wiedereinreise nach Kuba, nannte Fidel Castro ihn in einer TV-Sendung, jine- terologo» („Experte für Prostituierte»), ein Neologismus des „Máximo Lider», um die scheinbar zwielichtige Tätigkeit von Amir Valle bloßzustellen. Mehr als diese eine Ant­wort hat Valle von offizieller Stelle bis heu­te nicht erhalten.

Im Januar 2006 erreichte ihn ein Anruf vom deutschen Verleger und Autor Peter Faecke, den er auf der „Semana Negra» ein Jahr zuvor kennengelernt hatte. In Faeckes Verlag Edition Köln erschien 2005 mit „Die Türen der Nacht» erstmals eine deutsche Übersetzung von Valles Büchern, mittler­weile sind es acht. Durch dessen Vermitt­lungsbemühungen erhielt Valle zunächst ein sechsmonatiges Stipendium der Hein- rich-Böll-Stiftung, bevor er im August 2006 in das „Writers-In-Exile»-Programm des PEN-Zentrums aufgenommen wurde, das ihn bis Oktober 2009 unterstützte. Sein damals fünfjähriger Sohn Lior flog im Juli 2006 nach Deutschland. „Ein politi­scher Skandal ist der Regierung egal, aber ein intellektueller Aufstand – das ist etwas anderes. Also rief ich Gabriel García Már­quez und José Saramago an. Eine Woche später erhielt Lior die Ausreisegenehmi­gung», sagt Valle.

Mittlerweile fühlt sich Amir Valle mit sei­ner Familie heimisch in Deutschland, er schätzt vor allem die gute Ausbildung, die seine Söhne hier genießen. „Es gibt nur zwei Probleme: die Sprache und das Wet­ter», sagt Valle und lacht laut. Große Hoff­nung auf eine Rückkehr nach Kuba macht er sicht nicht. Pessimistich stimmen ihn vor allen Dingen die zahlreichen Nachkommen der „Dinosaurier“ Fidel und Raúl Castro. Aus seiner Sicht werden diese ein mögliches Machtvakuum nach deren Tod sofort schließen können.

Während der ersten beiden Jahre in Deutschland dachte Amir Valle, er würe nie wieder über Kuba schreiben können. Mittlerweile hat ihn sein Lebensthema „jineteras“ längst wieder eingeholt. Einige der ehemaligen Prostituierten, die er bei seinen Recherchen in der 1990er Jahren auf der Insel kennengelernt hat, leben heute in Spanien, Deutschland und der Schweiz. Eine der Frauen ist nach Berlin geflüchtet, wo Valle sie wiedergetroffen hat. Im kommenden Jahr erscheint im einer deutscher Verlag ein Roman über vier kubanische Prostituierte, die es nach Europa ins Exil verschlägt.