Amir Valle: Freistatt der Schatten

«Eine Menge Scheiße»: So beginnt Amir Valles «Freistatt der Schatten», vierter Teil und vorläufiger Höhepunkt seiner Havanna-Krimis. Und es trifft zu: Valles Kuba stinkt; nach Blut und Verwesung, nach Hoffnungs- und Skrupellosigkeit, nach Gier, nach Tod. Und doch ist es Amir Valles Kuba, auch wenn der Autor, dem man nach einem Auslandsaufenthalt die Rückkehr in seine Heimat verweigert, schon seit Jahren in Berlin lebt. Es ist auch Leonardo Paduras Kuba – dies nur, weil der Name natürlich fallen muss, wenn man von kubanischer Kriminalliteratur spricht -, und der mag die Scheiße anders beschreiben, aber so poetisch kann gar nichts sein, dass es den Gestank überlagern könnte. .

Ein klassischer Showdown steht am Anfang des Romans. Eine Lagerhalle, in der sich diverses Personal versammelt hat, zwei Parteien, die sich gegenseitig mit Schusswaffen in Schach halten. Patt. Nichts geht mehr und es braucht 300 Seiten, um dieses Stillstehen zu durchbrechen, 300 Seiten, auf denen uns Valle erzählt, wie und warum all diese Personen in die Lagerhalle gekommen sind.

Erzählen. Das stimmt so nicht. Wir hören Stimmen. Stimmen, die zuzuordnen manchmal nicht einfach ist, aber Sinn macht, weil sie nicht nur als Stimmen wichtig sind, sondern als Teile dieses Meers aus Scheiße, in das uns Valle da wirft. Das Meer spielt die Hauptrolle in «Freistatt der Schatten».

Denn das Meer trennt Kuba von Florida, die in immer größerem Elend versinkende Insel vom gelobten Land. Über das Meer zu gelangen, ist nicht einfach. Vor allem aber: Es kostet Geld. Und wo Geld im Spiel ist, kann das Verbrechen nicht weit sein. Irgend jemand bringt die Flüchtlinge auf seine Jacht, 8000 Dollar soll das kosten, Anlandung am Strand von Miami garantiert. Natürlich kommt es anders. Auf offener See werden die Flüchtlinge liquidiert, bei Kindern macht man manchmal eine Ausnahme, da sie als Organspender zusätzlichen Profit abwerfen können. Einige wenige überleben die Massaker. Und diese wenigen kommen eines Tages nach Kuba zurück, um die Hintermänner der Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

Ein Transvestit zum Beispiel, dessen Liebster ermordet wurde; ein junges Mädchen, das zwar fliehen konnte, doch nur, um in der Dominikanischen Republik als Prostituierte zu landen. Oder dieser Mann, der nicht «ich» sagt, sondern «wir», weil er nicht alleine ist, weil seine Frau und die drei Kinder, die man wie Scheiße entsorgt hat, immer bei ihm sind. Ihnen zur Seite stehen die Konstanten der Valle’schen Krimis, Kommissar Alain Bec und der alte Exgangster Alex Varga, heute Autorität seines Viertels und immer noch Gangster, aber einer aus Notwendigkeit. Sie jagen also die Verantwortlichen – denn es sind tatsächlich zwei, und dass sie Zwillinge sind, macht die Sache kompliziert.

Und alle reden. Perspektivwechsel, wie er berechtigter nicht sein könnte, ständig nuanciert sich das Bild, steigt aus dem unsäglichen Morast hoch in die Etagen der Skrupellosigkeit, aus dem Deskriptiven (was nichts für schwache Nerven ist) ins Poetische, Anrührende. Und je klarer sich das Bild Kubas dabei konturiert, desto unweigerlicher erkennen wir das globale Muster dahinter, weil eben nicht nur zwischen Kuba und den USA Menschen flüchten (wobei, dies allen Bedenkenträgern ins Stammbuch, die USA mitnichten als Paradies geschildert werden), sondern auch zwischen Afrika und Europa, Asien und Australien etc. Das ist, nun ja, «true crime» des Alltags, der normale Tsunami eben, leider ohne Fernsehkameras und packende Bilder der Katastrophe.

«Freistatt der Schatten» ist ein Roman, der uns Wirklichkeit mit großem schriftstellerischem Vermögen schildert. Manchmal sperrig, wo es sperrig sein muss, manchmal pointiert, wo man Nadeln braucht, um durch die Speckschicht der Gleichgültigkeit zu stechen. Mehr als empfehlenswert also – Ein Valle wiegt hundert «harte Triller» allemal auf.

dpr.

*Der Rezensent ist für die Edition Köln als Herausgeber tätig..

Amir Valle: Freistatt der Schatten. Edition Köln 2008 («Santuario de sombras», 2004, deutsch von Bernhard Straub). 313 Seiten. 17,90 €.

Publicado en la Revista Watching the detectives, el 1 de mayo de 2008.